Zwei Begriffe tauchen immer wieder in unseren Überlegungen und Gesprächen um das Thema Kantorenmusik auf: Handwerk und Kunst. Meines Erachtens versteht man beide Begriffe nicht richtig, wenn man sie nur als Gegensatz sieht: hier Handwerk, da Kunst. Mancherlei Erscheinungen deuten auf ein solches Missverstehen, zum Beispiel die geringschätzige Art und Weise, in der manche Komponisten und Kritiker von „Gebrauchsmusik” sprechen oder schreiben. Aber auch das musikalische Erzeugnis selbst lässt gelegentlich Rückschlüsse zu auf eine falsche Einstellung des Tonsetzers zur Frage Handwerk oder Kunst. Bei manchem etwas ledernen, etwas langweiligen Choralsatz, der jedoch als Autor einen bekannten guten Namen nennt, kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier von hoher Warte heruntergestiegen und mal abwechslungshalber oder auftragshalber) auch etwas für kleine Leute geschrieben wurde: Handwerk, ohne den Funken Kunst, den man auch in solch kleiner Sache sucht – vielleicht auch: ohne Liebe! Und das Gegenstück: Zu manchem Tonsatz möchte man sagen: „Es ist nicht alles gut, was falsch klingt!" Solche Tarnung mangelnden handwerklichen Könnens durch Verwendung „moderner“ Kunstmittel ist oft nicht leicht zu durchschauen. Wir tun wohl am besten, wenn wir die beiden Begriffe nicht auseinanderreißen. Denn Kunst ohne handwerkliche Sicherheit der Gestaltung ist eben keine rechte Kunst.

Wichtiger aber scheint mir die umgekehrte Feststellung, dass auch das sogenannte Handwerk nicht bestehen kann ohne den erwähnten künstlerischen Funken. Das Wort „Kunst" hatte in früheren Jahrhunderten ja noch durchaus den Sinn der „Kunstfertigkeit”. Zusammensetzungen wie „Wasserkunst", „Kunstmühle” und andere deuten auf die ursprüngliche Einheit von Kunst und Technik hin; und wenn Pestalozzi von der im Kinde zu bildenden „Kunstkraft" spricht, meint er nicht die Pflege eines besonderen Kunst-Sinnes, eines künstlerischen Verständnisses, sondern ganz schlicht die handwerklichen Fähigkeiten. Jeder wirkliche Handwerksmeister muss auch ein klein wenig „Künstler“ sein. Um für einen bestimmten Raum zu bestimmtem Zweck einen Schrank zu tischlern, um für eine bestimmte Person aus einem bestimmten Stoff einen Anzug zu schneidern, bedarf es, wenn die Sache gut werden soll, einer brauchbaren „Idee", eines Einfalls: so geht's, so kann ich die Sache machen. Auch der Handwerker braucht ein bisschen Phantasie! Und was schon vom Werk der Hand gilt, das gilt erst recht von jedem geistigen Erzeugnis. Es geht nicht ohne Idee, es geht nicht ohne Einfall, auch nicht in der kirchlichen Gebrauchsmusik.

Was bedeutet das für unsere Kantorenmusik? Es heißt etwa so viel: Nimm große Aufgaben nicht zu schwer, nimm kleine Aufgaben nicht zu leicht! Denke bei großen Aufgaben daran, wieviel Handwerk selbst in der größten Kunstleistung steckt; denke aber auch beim schlichtesten zweistimmigen Satz daran, dass es nicht geht ohne ein Minimum an schöpferischem Geist, an Idee, an Einfall. Dieses Geschenk des Einfalls stellt sich oft aber erst dann ein, wenn ich mich darum bemüht habe. Es kommt dann übrigens oft aus einer ganz anderen Richtung auf mich zu. Auf jeden Fall bleibt es „Geschenk”, trotz meines Bemühens – eine Parallele zu dem paradoxen Verhältnis zwischen menschlichem Bemühen und göttlicher Gnade, wie es sich etwa widerspiegelt in dem Pauluswort: „Schaffet, dass ihr selig werdet mit Furcht und Zittern, denn Gott ist's, der da in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen“.